Wie lange dauert ein Augenblick?

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Augenblick - Atem der Seele

 

Nimmt man die Frage wörtlich, so lautet die Antwort „sechs Sekunden“. Dies ist die Zeitspanne, in der durchschnittlich die Augenlieder einmal blinzeln. Sie fahren blitzschnell über die Augen, verteilen die Tränenflüssigkeit neu, reinigen die Augenoberfläche und sorgen für eine kurze Abschattung, eine Unterbrechung des Sehens. Doch dieser Bruchteil einer Sekunde Pause im Sehen ist entscheidend, weil dadurch das Sehen rhythmisch gegliedert wird. Während wir mit geöffneten Augen in die Welt schauen und uns damit von uns selbst lösen, weil wir mit den ...

 

 

 

... Sehstrahlen durch die geöffneten Augen hindurch draußen bei den Erscheinungen sind, bringt uns der Lidschlag zu uns selbst zurück. Er hilf uns beispielsweise von der Anteilnahme, dem staunenden Aufnehmen wieder Distanz zu gewinnen, beim selbstvergessenen Anschauen das Urteilsvermögen zu behalten.

 

Der Rhythmus des Lidschlages ist nicht nur bei jedem Menschen verschieden, er variiert außerdem je nach Tätigkeit und innerer Befindlichkeit. So kann er sich beschleunigen und so schnell wie der Atemrhythmus werden, das heißt, dass sich alle drei Sekunden die Lider senken, oder er kann sich auf wenige Male pro Minute verlangsamen. Letzteres ist beispielsweise in einer andachtsvollen oder kontemplativen Stimmung der Fall, während in einer hitzigen Diskussion oder bei Unsicherheit die Lidschlag-Periode hektisch werden kann.

 

Ein Selbstversuch, bei dem man mit häufigem Blinzeln in die Natur schaut oder ein Gemälde betrachtet, zeigt unmittelbar, dass eine bestimmte Zeitspanne ununterbrochenem Schauens notwendig ist, damit ein Eindruck gefühlsmäßig ausgelotet werden kann. Zu häufiges Blinzeln verhindert, dass wir uns Neuem mit Anteilnahme zuwenden können.

 

Sei es Autofahren, die Arbeit am PC oder das Lesen, immer ist unser Auge mit dem Aufnehmen von Informationen beschäftigt, ist intellektuell herausgefordert. Als Ausgleich ist es ratsam, das Auge auch träumen zu lassen, das heißt, sich von Farben und Formen überwältigen zu lassen. Um das Gelb eines blühenden Rapsfeldes oder die Farbnuancen eines Sonnenuntergangs, einer Gebirgslandschaft genießen zu können, müssen die Augen ruhig werden. Dies geschieht scheinbar von selbst, sobald wir uns einem solchen Eindruck unbefangen und konzentriert zuwenden.

 

Die Seele gestaltet die zeitlichen Abläufe des Körpers so, wie es für ihre Tätigkeit sinnvoll ist. Der Leib wird – so hat es der Arzt und Kosmologe Walter Bühler ausgedrückt – zum Instrument der Seele. Der Lidschlag ist eine Art Atem der Seele. So wie bei andachtsvoller Stimmung das Blinzeln ruhig wird, nimmt dessen Frequenz bei intellektueller Tätigkeit, wenn wir uns beispielsweise in einer fremden Gegend zurechtfinden wollen oder wenn wir einen verlorenen Gegenstand suchen, zu.

 

In dem Theaterstück „Das Leben des Galileo Galilei“ lässt Bertolt Brecht den italienischen Astronomen seiner Haushälterin erklären, wie die Planetenbewegung heliozentrisch vorzustellen sei. Zur Demonstration setzt er sie auf einen Drehstuhl und versetzt diesen daraufhin in Rotation. Als sie nach den Phänomenen gefragt ihn verständnislos anschaut, braust er auf mit den Worten: „Du sollst nicht glotzen, du sollst schauen!“ Damit ist gemeint, dass das Gesehene nur dadurch verstanden werden kann, indem wir uns nach einer Zeit des Betrachtens davon kurzzeitig abwenden. Der unmittelbare Eindruck tritt zurück  - es entsteht Raum für das Denken.

 

Nach jedem Blinzeln schauen wir wieder neu in die Welt. Das Blinzeln im Rhythmus von sechs Sekunden summiert sich jeden Tag zu 5.000-mal Neu-Sehen. Der Lidschlag ist deshalb der „kleine Bruder“ des Schlafes, wie dieser als der kleine Bruder des Todes bezeichnet wird. Im Blinzeln „stirbt“ der kontinuierliche Sehvorgang, aber gerade das macht ihn menschlich. So wie wir durch die Nachtruhe uns selbst neu finden und erfrischt die Welt mit neuen Augen anschauen können, so erneuert jeder Lidschlag unsere Augen, beziehungsweise unser Sehen.

 

Das Zublinzeln ist nicht ohne Grund eine der charmantesten Arten der Begrüßung, weil mit dem Augenzwinkern die beschriebene Erfrischung nicht uns selbst, sondern dem Gegenüber zugedacht wird.

 

(aus dem Buch: "Vier Minuten Sternenzeit“ v. Wolfgang Held)

 

 

 

 

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